20.11.2022

Hochschulpolitik

Hochschulen als soziale Orte: Wir müssen ‚sozial‘ neu denken“

Key Note von Matthias Anbuhl zum Kieler Hochschulempfang vom 8.11.2022

DSW-Generalsekretär Matthias Anbuhl. (c) Herschelmann

Kieler Hochschulempfang vom 8.11.2022 (c) STW SH

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Wir feiern 101 Jahre Studentenwerk Schleswig-Holstein.

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Auszubildende, lieber Vorstand, lieber Verwaltungsrat des Studentenwerks Schleswig-Holstein:

Für das Deutsche Studentenwerk gratulieren ich Ihnen zu diesem Jubiläum.

  • Sie machen heute das Studentenwerk Schleswig-Holstein aus
     
  • Sie verkörpern mit Ihrer Arbeit, mit Ihrem Engagement das, was vor 101 Jahren begann
  • Sie sind heute der Rückenwind für die Studierenden im Land!

Ich will ganz kurz zurück- – und dann mit Ihnen gemeinsam vorausblicken, in die nächste und nähere Zukunft.

 

Denn was eine Institution und Idee wie ein Studentenwerk relevant erhält, ist nicht ihr schieres Alter, und nicht eine beachtliche Historie.

Nein, es ist die Modernität und Aktualität ihrer Gründungs-Idee.

  • Unsere DNA seit der Gründung vor 101 Jahren ist hoch aktuell. Alle jungen Menschen sollen, die gleichen Chancen haben, sich zu bilden, zu studieren und an dieser Gesellschaft teil zu haben:

 

Egal, welchen familiären oder sozialen Hintergrund sie haben,

  • egal, über wie viel Einkommen sie verfügen,
  • welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, oder welcher Religion sie zugehörig sind.

Die Studenten- und Studierendenwerke leisten so einen wichtigen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit und zu sozialem Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Und das Studentenwerk Schleswig-Holstein stärkt so auch den Wissenschafts-standort Kiel und die Stadtgesellschaft, die auf die Ideen, die Kompetenzen und die Tatkraft der jungen Generation angewiesen ist.

Studierende, Lehrende und Kaufleute, die gemeinsam anpacken, gegen Hunger, gegen Obdachlosigkeit, und die gemeinsam dafür sorgen, dass Studieren gelingt: Das ist die „Ur-Szene“ unserer Gründung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.

Von Selbsthilfeinitiativen zu den sozialen Dienstleistungsunternehmen des öffentlichen Bildungssektors mit einem gesetzlichen Auftrag zur Wahrung der Teilhabeansprüche von jungen Menschen: Das ist der historische Bogen, den wir heute gemeinsam begehen.

 

"Die Studierendenwerke sind das soziale Rückgrat des deutschen Hochschulsystems."

 

Die Studierendenwerke sind das soziale Rückgrat des deutschen Hochschulsystems.

Das Modell Studierendenwerk hat sich in der Arbeitsteilung mit den Hoch-schulen sehr bewährt: Die Hochschulen verantworten Forschung und Lehre, die Studierendenwerke verantworten die soziale Infrastruktur.

Und die Studierendenwerke sind auch Orte der gelebten Demokratie und der Partizipation: Studierende arbeiten in den Verwaltungsräten und Vorständen der Studierendenwerke mit, und auf Verbandseben, im Deutschen Studentenwerk, haben sie auf Bundesebene ein Austauschforum.

Von vielen internationalen Partner-Organisationen werden wir um dieses deutsche Modell beneidet.

Historisch sind jedoch die Verwerfungen, das Elend und die Spannungen nach dem Ersten Weltkrieg gravierender, als die Situation heute.

Aber damals wie heute überlagern sich mehrere Krisen: Klimakrise, Pandemie, Krieg, Inflation, Energiekrise – die multiplen Krisen unserer Tage schlagen voll durch auf die Studierenden, die Hochschulen, und auf die Studierendenwerke.

Studierende stehen in diesem Wintersemester vor einer dramatischen sozialen Notlage.

Sie kommen finanziell und psychisch auf dem Zahnfleisch aus der Corona-Pandemie – und wissen angesichts explodierende Preise oftmals nicht, wie sie im Winter Strom, Gas und Lebensmittel bezahlen sollen.

Das studentische Budget ist in aller Regel extrem auf Kante genäht; nun droht diese Naht zu reißen.

Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung kam es bisher wegen der Pandemie glücklicher Weise nicht zu signifikant höheren Studienabbrüchen als vorher.

Aber wenn die Miet- und Nebenkosten weiter steigen, drohen natürlich Existenznöte. Studienabbrüche aus Geldmangel kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.

Die Studierenden stehen auch psychisch unter Druck.

Die psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke werden förmlich überrannt; an vielen Standorten hat sich die Wartezeit vervielfacht.

Bis vor der Pandemie war zumeist „klassische“, studien-bezogene Probleme der Grund, warum Studierende die psychologische Beratung ihres Studieren-denwerks aufsuchten: Arbeitsstörungen, Prüfungsängste, Aufschieberei, Schwierigkeiten beim Studienabschluss.

Nach vier Pandemie-Semestern, drei davon als reine Online-Semester, ist die psychische Belastungs- und Problemlage vieler Studierender deutlich existenzieller, gravierender.

Es geht um soziale Isolation und Vereinsamung, die grundsätzliche Infragestellung des Studiums, und in hohem Maße auch um depressive Verstimmungen, Hoffnungslosigkeit, bis hin zu suizidalen Gedanken.

Deshalb ist es essenziell, dass dieses Wintersemester 2022/2023 soweit es irgend geht in Präsenz stattfindet. Wir dürfen nicht vom Corona-Lockdown in einen Energie-Lockdown stolpern.

Klimakrise, Pandemie, Krieg, Inflation, Energiepreiskrise – vor diesem Hintergrund will ich jetzt in die nähere Zukunft blicken.

Ich habe vier Thesen, wie der Campus der Zukunft aus meiner Sicht aussehen muss.

 

  • Erste These
    Die Krisen machen wie im Brennglas deutlich: Hochschulen sind soziale Orte – aber wir müssen „sozial“ neu definieren.

Der durch die Pandemie erzwungene, massive Digitalisierungsschub der Hochschullehre ist nicht umkehrbar. Es wird kein Zurück in die Vor-Corona-Zeit in das Jahr 2019 geben. Wir werden nicht zurückkehren zu einer fast ausschließlichen Präsenz-Lehre und einem ausschließlich auf Präsenz ausgelegten Campus-Leben.

Wir werden es immer mit einem Mix aus digitaler, analoger und hybrider Lehre zu tun haben - wie auch immer dieses Mischungsverhältnis gestaltet sein mag.

Wir haben es mit einer zeitlichen und räumlichen Entgrenzung zu tun von akademischem Lehren und akademischem Lernen: Ich studiere dann, wann es mir passt, und ich studiere dort, wo es mir passt. Es wird Studierende geben, die in Kiel wohnen, aber in Hamburg studieren. Oder umgekehrt.

Und auch die Studierendenwerke werden ihre Angebote weiter digitalisieren müssen; auch für sie sind aber digitale Formate und Prozesse nicht neu.

Die Studierendenwerke sind mit der Digitalisierung ihres Leistungsportfolios schon vor der Pandemie weit gewesen; sie setzen zum Beispiel in ihren Wohnheimen auf

  • leistungsstarkes Internet
  • das Smarthome-Wohnheim, mit digitaler Steuerung von Gebäudetechnik und Energiewirtschaft
  • Apps, bei denen ich als studentischer Mieter den Status der Waschmaschine nachverfolgen kann
  • automatisierte Vermietung.

In ihrer Hochschulgastronomie, unter anderem ihren rund 400 Mensen, nutzen die Studierendenwerke seit längerem digitale Instrumente, um etwa die Menge an Essensresten so gering wie möglich zu halten oder den CO2-Fußabdruck eines Mensa-Gerichts zu berechnen.

In ihrer studienbegleitenden Beratung oder ihrer Kulturarbeit haben die Studierendenwerke viele neue, innovative, digitale Formate entwickelt.

Bei aller Begeisterung fürs Digitale: Das macht – und das zeigen die vier Pandemie-Semester ganz klar –, das macht den zwischenmenschlichen Austausch, die Begegnung, die Präsenz aber umso wichtiger, umso wertvoller.

Die Studierenden wollen und genießen und wertschätzen Präsenz.

 

Meine These ist: Hochschulen, und mit ihnen der Hochschul-Campus, erfahren als soziale Orte eine Aufwertung, während sie gleichzeitig als Orte eines schier „erzwungenen“ physischen Aufenthalts eine Abwertung erfahren: Ich bin an der Uni, weil ich will; ich bin nicht an der Uni, weil ich muss.

Natürlich werden weiterhin sehr viele Menschen in den Hörsälen, Labors, Seminarräumen sein, und diese Menschen werden Wissenschaft lernen und betreiben.

Natürlich wird es weiterhin die Begegnung in der Mensa geben, den Schnack in der Bibliothek, das Gespräch über das gestrige Spiel von Holstein Kiel am Rande des Seminars.

Natürlich werden sich Lehrende und Studierende auch außerhalb von Lehrveranstaltungen treffen, gemeinsam lernen, gemeinsam diskutieren und gemeinsam feiern.

 

"Hochschulen sind und bleiben soziale Orte, auch wenn ein Teil der Lehre digital bleibt."

 

Hochschulen sind und bleiben soziale Orte, auch wenn ein Teil der Lehre digital bleibt. Nur glaube ich, dass das Soziale viel bewusster, organisierter und intensiver sein wird.

 

  • Zweite These
    Wir müssen den Campus und seine Räume neu denken.

Der Campus wird das physische Zentrum des Lehrens und Lernens bleiben, aber das digitale Lernen wird vollständig dezentral.

Die Ansprüche, die Erwartungen und die Anforderungen an die Campus-Infrastruktur werden – neben einer flächendeckenden Digitalisierung – in die Richtung gehen, dass idealerweise überall auf dem Campus der wissenschaftliche Dialog in Präsenz geführt werden kann, in ganz unterschiedlich großen Gruppen, vielleicht auch zu Zeiten, die uns heute befremdlich erscheinen, etwa spät am Abend, oder am Wochenende.

Ich gehe in eine Lehrveranstaltung in Raum X, danach gönne ich mir in Cafeteria Y einen Cappucino, und dann gehe ich in Raum Z das Gelernte noch einmal durch…

Ich glaube das wird in dieser Form weniger werden; es wird sich vermischen.

 Warum dem Vortrag der Mitstudierenden nicht erst in der Bibliothek streamen, und dann in den Seminarraum gehen?

Und das eigene Referat in der Mensa vorbereiten, wo dort doch rund um die Uhr Arbeitsplätze bereitstehen?

 

Abstrakter formuliert: Räume auf dem Campus, denen bisher ausschließlich ein Zweck zugedacht war, werden weitere Zwecke erfüllen.

Nehmen Sie mein Lieblings-Beispiel, die Mensa.

Die Mensa der Zukunft wird neben einem Ort des guten, preisgünstigen Essens auch ein Ort sein des Austausches, der Begegnung, des Lernens, vielleicht der Unterhaltung, und vielleicht eben auch der akademischen Lehre.

Flächendeckend digitalisiert, wird auf dem Campus der Zukunft potenziell jeder Raum multi-funktional.

Und die Lehrenden und die Studierenden werden neue Ansprüche stellen an die Aufenthaltsqualität, an die Funktionalität der Räume.

 

  • Dritte These
    Wir haben enormen Nachholbedarf bei der sozialen Infrastruktur unseres Hochschulsystems.

Auf dem Campus der Zukunft kommt nicht allein den Räumen, es kommt den Leistungen der Studenten- und Studierendenwerke eine Schlüsselrolle zu.

Sie verantworten und betreiben die soziale Infrastruktur.

Wohnen, Essen, Finanzierung, Beratung, Kinderbetreuung, Internationales, Kultur – alles aus einer Hand.

Wenn das Soziale auf dem Campus der Zukunft digitalisiert ist, intensiviert wird und den Kern der Lehre bildet – dann kommt der sozialen Infrastruktur eine strategisch entscheidende Relevanz zu.

Ich bin überzeugt, dass es in Zukunft ganz maßgeblich auf die Räume, auf die Leistungen, auf die Expertise der Studierendenwerke ankommt.

Und es rächt sich, leider, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig in die soziale Infrastruktur, in die Mensen, Wohnheime und in die Beratung der Studierendenwerke investiert wurde.

Der Bedarf an zusätzlichem, bezahlbarem Wohnraum für Studierende ist enorm.

Wir haben einen massiven Investitionsstau bei unseren Mensen und Cafeterien, und durch die Krisen benötigen wir dringend einen Ausbau der psychosozialen Beratung der Studierendenwerke.

 

Vieles ist bislang daran gescheitert, dass der Bund die alleinige Zuständigkeit für Investitionen in die Studierendenwerke bei den Ländern sah.

Aber das ändert sich gerade; mit dem von Bundesbauministerin Klara Geywitz geplanten Programm „Junges Wohnen“ soll erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten nun endlich wieder ein großes Bundesprogramm gegen die Wohnungsmisere von Studierenden aufgelegt werden.

Das freut uns sehr, und wir sind mit dem Bundes-Bauministerium im engen politischen Dialog.

Aber es bleibt dabei: Die soziale Infrastruktur der Studierendenwerke muss ausgebaut, sie muss flächendeckend digitalisiert und an die neuen Anforderungen des Campus von morgen angepasst werden.

 

  • Vierte These

Auf dem Weg zum klimaneutralen Campus sind die Studierendenwerk ein wichtiger Baustein.

Dass wir die Grundlagen unserer Ernährung, unseres Wirtschaftens und Lebens erhalten müssen, ist für die Studierendenwerke seit mehr als 100 Jahren Maßstab ihres Handelns.

Sie handeln, sie arbeiten ökologisch, sozial – und nach wirtschaftlichen Maßstäben.

Das Soziale ist in der ‚DNA‘ der Studierendenwerke fest verankert; ihr staatlicher Sozialauftrag ist ihre Mission: Dafür zu sorgen, dass Studieren ohne Ansehen des sozialen Hintergrunds gelingt.

Dass ökologisches und wirtschaftliches Handeln sich nicht ausschließen, dafür sind die Studierendenwerke der beste Beweis.

Die Studierendenwerke können, wollen und betreiben Nachhaltigkeit. Sie sind Nachhaltigkeits-Pioniere, gerade wenn Sie sich ihre Mensen und Wohnheime ansehen.

Sie bauen und betreiben energieeffiziente Wohnheime, verwenden ökologische Baustoffe, sind zum Beispiel Pioniere im Holzbau.

In ihren Mensen stehen Nachhaltigkeit und Klimaschutz an vorderster Stelle: Es geht um Abfallvermeidung, vegetarische oder vegane Ernährung, regionale Lieferketten und saisonal ausgerichtete Speisepläne.

Mentale und physische Gesundheit sind Top-Themen ihrer studienbegleitenden Beratung.

Die Studierenden sind Treiber dieser Prozesse, und mit den Studierendenwerken haben sie Bündnispartner und Unterstützer an ihrer Seite.

Worauf ich hinaus will: Auf dem Weg zur klimaneutralen Hochschulen, zum klimaneutralen Campus sind die Studierendenwerke ein wichtiger Baustein.

Mit ihnen wird der Campus der Zukunft so, wie er meiner Meinung nach aussehen muss: sozial, digital, nachhaltig.

Dafür muss die Infrastruktur exzellent ausgestattet sein. Und dafür brauchen wir alle: Stadt, Länder und den Bund.