04.04.2022

Ein dringender Appell

Es geht ums Existenzielle

DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep sorgt sich im aktuellen DSW-Journal 1-2022 um psychisch belastete Studierende, und was das für unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft für Folgen haben könnte

DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep: Foto: Kay Herschellmann

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DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep:

"Vier Pandemie-Semester, ein fürchterlicher Krieg vor unserer Haustür, die Allgegenwart der Klimakrise – es ist nicht leicht, angesichts all dessen ein gesundes emotionales Gleichgewicht zu behalten. Wer, so wie ich, sein aktives Berufsleben hinter sich hat, verfügt vielleicht über so etwas wie einen Resilienz-Vorrat, sorgt sich aber umso mehr um die Jüngeren, die mit alledem umgehen müssen.

Die Pandemie allein schon hat ihnen spürbar zugesetzt, das zeigen klar die Rückmeldungen aus den psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke. Nun verstärken sich die Zukunftsängste noch dramatisch – der Belastungsdruck im Studium wächst weiter an. Dabei gibt es eine quantitative und eine qualitative Dimension.

Die quantitative: Die Nachfrage der Studierenden nach psychologischer Beratung ist in den Beratungsstellen der Studierendenwerke durch die Pandemie und während der Pandemie in die Höhe geschnellt; die psychologischen Beratungsstellen werden förmlich überrannt; an manchen Standorten hat sich die Wartezeit vervielfacht.

Was mich noch mehr umtreibt, ist die qualitative Dimension dieser Entwicklung: Bis vor der Pandemie war zumeist „klassische“, studien-bezogene Probleme der Grund, warum Studierende die psychologische Beratung ihres Studierendenwerks aufsuchten: Arbeitsstörungen, Prüfungsängste, Aufschieberei bzw. Prokrastination, Schwierigkeiten beim Studienabschluss.

Nach vier Pandemie-Semestern, drei davon als reine Online-Semester, ist die psychische Belastungs- und Problemlage vieler Studierender deutlich existenzieller, gravierender: Es geht um soziale Isolation und Vereinsamung, die grundsätzliche Infragestellung des Studiums, und in hohem Maße auch um depressive Verstimmungen, Hoffnungslosigkeit, bis hin zu suizidalen Gedanken.

Es geht nicht allein darum, sich im erzwungenen Online-Studium eine Tagesstruktur zu geben. Es geht nicht allein darum, regelmäßige soziale Kontakte und den Austausch mit Mitstudierenden zu organisieren. Es geht ums Existenzielle.

Ich finde das besorgniserregend, und ich appelliere insbesondere an die deutsche Bildungs- und Hochschulpolitik, sich noch viel stärker um die Notlage dieser Studierenden zu kümmern. Wir brauchen dringend eine gemeinsame Bund-Länder-Anstrengung, um die psychosoziale Beratung der Studierendenwerke auszubauen. Einzelne Bundesländer gehen schon voran – gut so.

Ich selbst bin Ökonom, kein Psychologe. Aber gerade als Ökonom bereitet mir diese Entwicklung eben auch Sorge: Wenn wir jetzt nicht handeln und uns um die Studierenden mit psychischer Belastung kümmern, werden die späteren Folgekosten und die Belastungen fürs Gesundheitssystem mit Sicherheit viel höher sein als die Mittel, die Bund und Länder jetzt für ein schnelles Aktionsprogramm aufwenden müssen.

Und wir müssen den Blick weiten, übers Hochschulsystem hinaus: Sollten Studierende in großer Zahl, die jetzt „im System“ sind, aus psychosozialen Gründen resignieren, gehen uns hochqualifizierte Menschen, Talente verloren, die wir doch so dringend brauchen – in Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

Kurz: Empathie und Mitmenschlichkeit gebieten es, psychisch belastete Studierende jetzt zu unterstützen – die ökonomische Vernunft aber auch.  Nichtstun kostet in vielerlei Hinsicht mehr als Helfen."

Der Text ist erschienen im DSW-Journal 1-2022: https://www.studentenwerke.de/de/content/%C2%BBdas-miteinandersein-auf-e...