08.11.2022

Studium und Behinderung

40 Jahre IBS, 40 Jahre Engagement für eine inklusive Hochschule

Begrüßungsrede von Matthias Anbuhl, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks anlässlich der Fachtagung der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks (DSW) am 10. und 11. November 2022

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Guten Tag, sehr geehrteTeilnehmer/-innen

Herzlich willkommen an diesem November-Nachmittag zur Jubiläums- und Fachtagung der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des Deutschen Studentenwerks.

Im vergangenen Jahr habe ich mich an dieser Stelle im Online-Format vorsichtig hoffnungsfroh geäußert, dass wir in diesem Jahr in Präsenz tagen können.

Das können wir, und umso mehr freue ich mich, dass Sie der Einladung zu dieser Veranstaltung so zahlreich gefolgt sind! Wir sind heute 170 Menschen die, das 40-jährige Jubiläum der IBS feiern, und ich freue mich, diese Fachtagung eröffnen zu dürfen.

Im Einzelnen darf ich begrüßen:

  • Herrn Peter Greisler, in Vertretung heute von Herrn Dr. Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung,
  • Dr. Jens-Peter Gaul, Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz,
  • Christian Hingst, Abteilungsleiter Hochschulen bei der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung,
  • Annetraud Grote, die Inklusionsbeauftragte beim Paul-Ehrlich-Institut und Vertreterin im Unternehmensforum
  • die Vertreter/-innen und Vertreter aus der Bundes- und Landespolitik,
  • die Beauftragten sowie Berater*innen für Studierende mit Behinderungen aus Hochschulen und Studierendenwerken,
  • die Mitglieder der studentischen Interessenvertretungen
  • besonders begrüßen will ich auch die anwesenden Mitglieder des Beirates der IBS - insbesondere den Vorsitzenden, Herrn Dr. Grebe, dem ich ganz herzlich für die langjährige professionelle Begleitung danke.

Seit 40 Jahren informiert, berät und qualifiziert die IBS Beauftragte und Berater/-innen in Hochschulen und Studierendenwerken, aber auch Studierende mit Behinderungen selbst, zu allen Fragen rund um das Thema Studium und Behinderung. Gegründet 1982 auf Beschluss des Deutschen Bundestages, ist die IBS das bundesweite Kompetenzzentrum, wenn es um Studium und Behinderung geht.

Einen ganz besonderen Dank möchte ich dem Bundesministerium für Bildung und Forschung aussprechen. Durch dessen langjährige Förderung ist die intensive Arbeit und das Engagement der IBS erst möglich.

Ohne diese gezielte Förderung - da bin ich mir sicher - wäre das Thema Inklusion an Hochschulen weit weniger im Bewusstsein der Akteure und in Strukturen verankert, als es das gegenwärtig ist.

Die IBS setzt sich seit 40 Jahren für den Abbau von Barrieren und die Verwirklichung von inklusiven Strukturen an den Hochschulen ein. Lassen Sie uns kursorisch einige Wegmarken in den Blick nehmen. Welche politischen Entwicklungen gab es? Welche Rolle spielte die IBS? Und: Wo stehen wir heute?

Im Jahr 2002 tritt das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Auch das Hochschulrahmengesetz wird geändert. Zentral sind hier die Verankerung des Benachteiligungsverbotes und des Anspruchs auf Teilhabe an der Hochschulbildung für Studierende mit Behinderung. „Teilhabe statt Fürsorge“ – ein Paradigmenwechsel in der gesamten Behindertenpolitik.

Die IBS ist in diesem Prozess eine zentrale Akteurin und setzt sich für den Abbau von Barrieren und für die Gestaltung angemessener Vorkehrungen ein. Auch macht sich die IBS stark für die gesetzliche Verankerung von Behindertenbeauftragten an den Hochschulen. Sie sind die zentralen Ansprechpartner und Motor für die Inklusion an den Hochschulen. Sie müssen stark gemacht werden, wenn wir Teilhabe an Hochschulbildung ernstnehmen wollen.

Heute ist das Amt der Beauftragten übrigens in 13 von 16 Landeshochschulgesetzen festgeschrieben. Ich finde, es wird Zeit, dass auch die noch verbliebenen Länder die Lücke schließen. Gerade wird beispielsweise in Sachsen das Hochschulgesetz novelliert. Mein Appell an den Freistaat Sachsen: Lassen sie diese Gelegenheit nicht verstreichen.

Eine weitere Wegmarke: Die Bologna-Reform. Die IBS ist eine aufmerksame und kritische Begleiterin dieses langjährigen Reformprozesses. Wie kann studieren mit Beeinträchtigung in diesen veränderten Strukturen gelingen? Keine ganz einfache Aufgabe: Das Studium ist verschulter geworden, es gibt eine engere Prüfungstaktung. Unsere Befragungen zeigen, dass die zeitlichen und formalen Vorgaben für das Studium die größte Hürde für Studierende mit Beeinträchtigungen sind.

Ich wünsche mir, dass Studiengänge insgesamt flexibler gestaltet werden. Dadurch könnte die Vereinbarkeit von Beeinträchtigung und Studium deutlich verbessert werden. Davon profitieren nicht nur Studierende mit Beeinträchtigungen, sondern auch Studierende mit Kind oder solche, die nebenher arbeiten.

Apropos Befragungen: Auf Initiative der IBS wurden erstmals die umfassenden Datenerhebungen „beeinträchtigt studieren“ aufgelegt - in Kurzform best1 und best2. Anhand der Daten kann die Wirksamkeit der bisher eingeleiteten Maßnahmen zur Realisierung einer inklusiven Hochschule besser eingeschätzt werden. best3 ist derzeit in Arbeit. Die Ergebnisse erwarten wir für das zweiteQuartal 2023. Ich denke, alle hochschulpolitischen Akteure sollten best3 auf dem Schirm haben. Wir als DSW werden mit den Ergebnissen jedenfalls intensiv arbeiten.

Ein wichtiger Meilenstein, der bis heute die Debatten maßgeblich bestimmt: Die UN-Behindertenrechtskonvention tritt im Jahr 2009 in Deutschland in Kraft. Behinderung wird nicht mehr als individuelles Defizit verstanden. Der moderne Behinderungsbegriff enthält eine gesellschaftliche Dimension. 

Die IBS hat früh das Potential der UN-BRK erkannt und macht sich dafür stark, dass in den Hochschulen Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK aufgestellt werden. Die IBS hat 26 Aktionspläne von Hochschulen auf der Website dokumentiert. Bei knapp 400 Hochschulen bundesweit besteht noch viel Luft nach oben.

Die Hochschulrektorenkonferenz war 2009 mit ihrer Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ Pionier und hat unter Mitarbeit der IBS Handlungsfelder und Empfehlungen für die Hochschulen vorgelegt. Es wäre ein guter Zeitpunkt, diese  wichtige Empfehlung zu aktualisieren.

Wo stehen wir heute bei der Umsetzung der UN-BRK?

Bund und Länder haben in den vergangenen Jahren zahlreiche gesetzliche Verpflichtungen erlassen. Bei öffentlichen Neubauten muss Barrierefreiheit berücksichtigt werden.

Webseiten, Lernmanagementsysteme, Lernmaterialien und digitale Verwaltungsverfahren sind barrierefrei zu gestalten. Gerade bei der digitalen Barrierefreiheit besteht erheblicher Handlungsbedarf, das hat die Corona-Pandemie gezeigt.

Mein Appell an Bund und Länder: Mit dem Erlassen von Gesetzen ist es nicht getan.

Eine Umsetzung der UN-BRK gibt es nicht zum Nulltarif! Sachsen zum Beispiel, aber auch Nordrhein-Westfalen stellen längerfristig zweckgebundene Inklusionsmittel bereit. Ich wünsche mir, dass diese Beispiele Schule machen in anderen Ländern.

Ich komme zu den Nachteilsausgleichen – neben Barrierefreiheit das wichtigste Instrument, um Chancengleichheit im Studium herzustellen.

Ich spreche sicher vielen im Saal aus dem Herzen, wenn ich sage: Hier hakt es leider an vielen Stellen. Regelmäßig landet man in diesem Kontext beim Thema der sog. Dauerleiden. Ein hartnäckiges Thema, das vielen von Ihnen wahrscheinlich in Ihrer täglichen Beratungsarbeit begegnet.

Studierenden insbesondere mit psychischen Beeinträchtigungen werden Nachteilsausgleiche ohne Einzelfallprüfung versagt. Bei ihrem Vorgehen beziehen sich die Hochschulverwaltungen auf die gängige Rechtsprechung, die sich an der Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1985 orientiert.

Für viele Studierende mit Behinderungen ergibt sich eine paradoxe und aus meiner Sicht beklagenswerte Situation: Trotz eines seit 1985 wesentlich verbesserten Diskriminierungsschutzes und eines modernen Behinderungsbegriffs verlieren sie durch Rückgriff auf eine 30 Jahre alte Rechtsprechung ihr Recht auf Nachteilsausgleich.

Auch ein von der IBS 2019 in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten hat an dieser Praxis bisher nichts grundlegend ändern können. Aber selbst wenn die Studierenden den Bescheid des Prüfungsamtes haben, scheitert es oft an der Umsetzung: Weil Lehrenden das Problembewusstsein fehlt, weil Räume oder Aufsichten nicht zur Verfügung stehen.

Zum Schluss ein Blick auf die Lage der Studierenden insgesamt.

Klima, Krieg, Inflation, Krise: Die multiplen Krisen schlagen auch auf die Studierenden voll durch. Die enormen Preissteigerungen treffen die 2,9 Millionen Studierenden mit voller Wucht.

Viele Studierende wissen wegen rasant steigender Preise für Strom, Gas und Lebensmittel kaum, wie sie Mieten, Essen und Lebensmittel zahlen sollen.

Die Bundesregierung hat mit diversen Hilfen für Studierende reagiert wie die zwei Heizkostenzuschüsse für BAföG-Empfänger*innen oder die geplante Direkthilfe von 200 Euro. Dass Bildungseinrichtungen von der geplanten Strom- und Gaspreisbremse profitieren sollen, begrüßen wir ausdrücklich. Doch diese Maßnahmen reichen nicht aus, um die Studierenden durch den Winter zu bringen.

Bei der Studienfinanzierung besteht Reformbedarf. Wir brauchen eine weitere kräftige BAföG-Anhebung, die die Studierenden über die Inflation trägt. Dazu gehört die Anhebung des BAföG-Grundbedarfs auf 502 Euro wie beim geplanten Bürgergeld. Auch ist eine regelmäßige Anpassung an die Inflation beim BAföG zwingend erforderlich.

Für diese Legislaturperiode ist eine strukturelle Reform des BAföG angekündigt. Sie ist dringend notwendig, denn das BAföG passt nicht mehr zu den vielfältigeren Lebenswirklichkeiten und Lebensentwürfen der Studierenden. Durch ein Bündel von Maßnahmen muss erreicht werden, dass mehr als die derzeit 60% der Studierenden die BAföG-Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört unter anderem die Anhebung der Förderhöchstdauer.

Aber auch die besonderen Belange von Studierenden mit Behinderungen müssen beim BAföG stärker berücksichtigt werden. So werden die behinderungsbedingten Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt nicht berücksichtigt. Höhere Kosten fallen beispielsweise für eine diätetische Ernährung oder beim Wohnen an. Barrierefreie Wohnungen haben oft eine höhere Quadratmetermiete, da es sich in der Regel um Neubauten handelt. Außerdem gibt es einen höheren Flächenbedarf für Bewegungsflächen oder die Unterbringung einer persönlichen Assistenz. Dieser Mehrbedarf muss im BAföG berücksichtigt werden!

Mein Fazit: Es hat sich viel getan, aber es gibt auch noch viel zu tun. Auch nach 40 Jahren gehen der IBS die Themen nicht aus. Ich denke, viele von Ihnen stimmen mit mir überein: Sie wird weiterhin gebraucht. Wir als Deutsches Studentenwerk setzen darauf, dass wir die derzeit laufende, von der Bundesregierung angestoßene, Evaluation erfolgreich abschließen und die IBS ihre erfolgreiche Arbeit fortsetzen kann - auch in haushaltspolitisch herausfordernden Zeiten.

Ich möchte abschließend den ehemaligen und den aktuellen Kolleg/-innen der IBS herzlich danken. Sie haben diesen Weg zu einem Mehr an Inklusion stets mit viel Engagement mitgestaltet. Dass viele ehemalige Mitarbeiter/innen und Weggefährten heute da sind, zeigt auch: Inklusion ist ihnen ein Herzensanliegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!